Der neue Anzug

Humoreske von Paul Bliß
in: „Grand Island Anzeiger und Herold”, (Nebraska), vom 01.01.1897,
in: „Stralsundische Zeitung, Sonntagsbeilage” vom 22.11.1896,
in: „Abendblatt”, (Chicago, Ill.), vom 14.12.1896


Ein altes Sprichwort sagt: „Kleider machen Leute.” Das ist an und für sich eine billige Weisheit, und die sogenannten Gebildeten unserer Zeitgenossen wollen nichts mehr davon hören, daß in den alten Sprichworten ein Kern von echter Wahrheit steckt, aber trotzdem will ich versuchen, mit dieser kleinen Geschichte — die den Vorzug hat, wahr zu sein, — den Beweis zu erbringen, das gerade das oben citirte Wort auch heute noch recht gut anwendbar ist.

Also ich erzähle die Geschichte meines besten Freundes.

Er heißt Leopold und ist ein dramatischer Dichter, leider ein platonischer Dramatiker, das heißt: ein noch nicht aufgeführter.

Man weiß ja aus Erfahrung, daß so ein armer Kerl leicht als eine komische Figur gilt, trotzdem er des Lebens ganz bitteren Ernst zu durchkosten hat.

Nun, die Meinung seiner edeln Zeitgenossen ließ Herrn Leopold sehr kalt; er war Philosoph und lächelte nur über die Neckereien all der kleinen Gerngroße und Neidhammel, denn er war fest davon überzeugt, daß auch ihn ein glücklicher Zufall eines Tages auf den Schild des Ruhms heben würde.

Sonst aber war er ein lieber herziger Kerl, trug lange Locken und kurze Hosen und ärgerte sich unbegreiflicherweise darüber, daß Schiller dem Königlichen Schauspielhause in Berlin immer noch den Rücken zukehrte. Eine Schwäche hat doch schließlich jeder Mensch!

Herr Leopold wohnte in einer Mansarde und hatte eine vorzügliche Schornstein-Aussicht. Sein Zimmerchen war im Sommer drückend heiß und im Winter bitterkalt. Aber trotzdem zog er nicht aus, denn der Hauswirth war ein vortrefflicher Mann, der ein Herz hatte, was man doch nicht von allen Berliner Hauswirthen sagen kann, sobald es sich um die Miethszahlungen handelt.

Auch die übrigen Ansprüche, die Herr Leopold an das Leben stellte, waren mehr als bescheiden. Ein warmes Mittagessen gehörte zu den Seltenheiten (man ist eben in Deutschland nicht ungestraft ein Dichter!), und seine Garderobe war gerade nicht sehr salonfähig, denn er verstand es absolut nicht, die Leute anzupumopen.

Natürlich machte sich alle Welt über seine Kleidung lustig. Denn wer fragt heute noch seinen Nächsten, ob er seine Rechnungen bei Schneider, Schuster oder Wäschelieferanten bezahlt habe; Bedingung ist nur, daß man tadellos angezogen umhergeht; sonst ist man nicht gesellschaftsfähig — Kleider machen eben noch immer Leute!

Herr Leopold kümmerte sich auch darum nicht. Er schrieb ein Stück nach dem andern, reichte sie allen Theatern ein, bekam sie von allen Theatern wieder zurück, schimpfte auf die Direktoren, noch mehr auf die Dramaturgen, legte dann Stück für Stück in seinen Schreibtisch und wartete, bis seine Zeit da sein würde.

Da eines Tages geschah ein Wunder.

Er traf einen alten Jugendfreund wieder, einen Herrn Wolfsmilch, der sich als Schneidermeister vor kurzem etablirt hatte, aber noch fast gar keine Kundschaft besaß, trotzdem er sein Handwerk durchaus verstand. Und dieser gute Freund hatte eine famose Idee.

Er sagte: „Leopold, ich mache Dir einen eleganten Anzug, und Du empfiehlst mich bei all Deinen Bekannten.”

Leopold wurde verlegen und sträubte sich, weil er keine Schulden machen wollte. Aber der unternehmende Tailleur redete so lange, bis dem armen Dichter die Entgegnungen fehlten.

Also bekam Herr Leopold einen neuen Gesellschaftsanzug — langer Rock, ausgeschnittene Weste und weite Hose mit Bügelfalte, tadellos sitzend und elegant. Da nun aber auch Hut, Stiefel und Wäsche dementsprechend sein mußten, so schaffte Meister Wolfsmilch auch diese an, so sehr sich Leopoldchen auch dagegen sträubte. Nun war der „Cavalier” fertig.

Die Wirkung war denn auch ganz enorm. Alle seine Bekannten starrten ihn wie ein Wunder an und hundert Fragen sollte er auf einmal beantworten.

Er aber sagte mit der größten Seelenruhe: „Die Sache ist sehr einfach. Ich habe einen alten Onkel beerbt.” Sogar flunkern konnte er jetzt, das glaubte er dem neuen Anzug schuldig zu sein.

Und siehe da — plötzlich hänselte ihn kein Mensch mehr. Alle fanden, daß er eigentlich doch ein ganz feiner Kerl war, den man entschieden verkannt hatte. Und jeder wollte natürlich sofort die Adresse des Schneiders wisse.

Leopold machte ein vollständig gleichgültiges Gesicht, nannte so obenhin Namen und Wohnung des Tailleurs, und wunderte sich heimlich nicht wenig über den schnellen Wechsel seines Ansehens, obschon er die ganze Gesellschaft nun erst recht verabscheute.

Meister Wolfsmilch aber hatte seinen zweck erreicht, denn jetzt kamen und gingen die Kunden bei ihm, und in wenigen Tagen schon stellte er einige Gesellen ein.

Der feine Leopold hatte sich in seine neue rolle sehr bald eingelebt. Nur fand er, daß so ein eleganter Anzug auch neue Pflichten seinem Träger aufzwang. So z.B. konnte er jetzt nicht mehr dritter Klasse in der Stadtbahn fahren, er durfte nicht mehr seine einfachen Restaurants aufsuchen, und Sechs-Pfennig-Cigarren durfte er schon gar nicht mehr rauchen, wenn er in Gesellschaft seiner Bekannten war. Das alles war er ja dem neuen Anzug und der angeblichen Erbschaft schuldig, — denn eine Lüge hilft doch nur, wenn man sie auch ordentlich unterstützt. Das alles aber erforderte Geld.

Doch auch dies hatte der intelligente Meister Wolfsmilch vorausgesehen. Er gab auch mit Freuden das nothwendige Geld her, denn sein Geschäft besserte sich ja von Woche zu Woche, und er wollte sich dem Freunde dankbar erweisen.

Eines Tages wurde ein Chefredakteur auf Herrn Leopold aufmerksam. Er fing an, sich für den eleganten jungen Dichter zu interessiren, lud ihn zur Mitarbeit am Unterhaltungstheil seines Blattes ein und bewilligte ihm relativ glänzende Honorare.

So verdiente Herr Leopold Geld.

Und nun kam er mit Riesenschritten vorwärts. Er arbeitete unermüdlich, immer nur kleinere Sachen, die er aber reißend los wurde; und in wenigen Monaten war er Mitarbeiter bei fast allen besseren Wochenschriften.

Dementsprechend war auch sein Verkehr größer geworden.

Er war nun in vornehmen Familien eingeführt, lernte viele reiche und einflußreiche Leute kennen, die sich ein Privatvergnügen daraus machten, junge Talente zu fördern und bekannt zu machen. Und natürlich hatte er jetzt auch eine elegante Garçonwohnung genommen, so daß er seine Gönner und Freunde bei sich empfangen konnte. Vom Meister Wolfsmilch hatte er inzwischen noch einen Gesellschaftsanzug und einen Frack bezogen, und nun ging es „avanti”.

Der gute Leopold war „mode” geworden.

In einer Gesellschaft lernte er Herrn Theaterdirektor Heldenmund persönlich kennen. Dies war ein korpulenter Herr mit schneidigem Schnurrbart. Er sprach stets im tiefsten Brustton der innersten Ueberzeugung; er sprach viel dummes Zeug von Kunst und Literatur, aber er trug echte Brillantenknöpfe; sein Gehrock hatte viele Knopflöcher, aber noch mehr bunte Orden, — im übrigen aß er gern ungarische Nationalgerichte.

Als der Herr Direktor merkte, daß Herr Leopold jetzt elegant und mode war und solche einflußreichen Beziehungen hatte, trat er mit Gönnermiene zu ihm heran und sagte mit Pathos: „Aber, mein lieber Freund, warum schreiben Sie denn kein Stück für eines meiner beiden Institute?”

Und Leopold lächelte verständnißvoll: „Herr Direktor, ich habe ein neues Stück fertig.”

„Aber so reichen Sie es mir doch ein, lieber Freund! Ich warte ja nur darauf, Sie berühmt zu machen!”

Herr Leopold nickte nur wieder verständnißinnig.

Dann ging er nach Hause, nahm das letztgeschriebene Stück, klebte ein neues Titelblatt ein, änderte den Titel, und brachte es dem Herrn Direktor.

Dies Stück war zwar schon einmal abgelehnt worden vom Herrn Direktor, aber trotzdem reichte er es wieder ein, da er mit Bestimmtheit annehmen konnte, daß es bei der ersten Einreichung überhaupt nicht gelesen war.

Und diese Annahme erwies sich denn auch als durchaus richtig, denn bereits nach acht Tagen schrieb der Herr Direktor höchst eigenhändig, daß er seit Jahren kein so hervorragend gutes Stück gelesen habe.

Das Schauspiel wurde angenommen, aufgeführt und hatte einen großen Erfolg.

Die Theater-Direktoren fingen an, den glücklichen Dichter zu hofiren.

Er wurde alle seine Stücke los, die in den Tiefen seines Schreibtisches der Auferstehung harrten. Er wurde berühmt und reich und hochgeachtet.

Wenn er aber einmal allein beim Meister Wolfsmilch ist und sich einen neuen Anzug machen läßt, dann sagte er wohl manchmal voll Dankbarkeit: „Du hast mich zu dem gemacht, was ich nun bin, Du allein!”

Und der kluge Schneidermeister erwidert dann lächelnd: „Ja, ja, das gilt auch heute noch — „Kleider machen Leute.”

— — —